Neudorf

 

Aus der Geschichte von Neudorf
 
Etwa 400 Meter hinter dem 1893/94 errichteten Wasserturm, in Richtung Lichtensee, lag Ende des 2. Weltkrieges, am Rande des Truppenübungsplatzes, ein Objekt der ehemali­gen Wehrmacht, genannt Waldlager. Hier waren mehrere hundert Flüchtlinge und Ausgebombte, überwiegend Frauen und Kinder, in Baracken untergebracht. Vor Übergriffen schützte ein 2 Meter hoher Zaun, sowie die Lagerpolizei mit einem Polizeiwachtmeister und sieben Hilfspolizisten. Es gab eine Zivilverwaltung mit Lagerleiter, ei­ne Schulbaracke und eine Krankenschwester, der auch die Badbaracke unterstand. In der Küchenbaracke sorgte eine Köchin dafür, dass die Lagerinsassen täglich ein warmes Mittagessen erhielten. Im Waldlager, zum Teil in einer sogenannten „Männerbaracke", wurden unter anderem auch die Bewerber auf neue Siedlerstellen in der Umgebung - die künftigen Neubauern - untergebracht.

Um Spuren des 2. Weltkrieges nach 1945 zu beseitigen und das durch ihn verursachte Leid zu mildern, sollten neben dem Wiederaufbau des zerstörten Ortes Adelsdorf (später „Dorf der Jugend") bei Großenhain im Zuge der Bodenreform zwei neue Dörfer auf einer Fläche von 1000 ha auf dem Gelände des Truppenübungsplatzes Zeithain entstehen. 50 Siedlerstellen zu je 10 ha waren vorgesehen und zwar im ehemaligen Ort Gohrisch, mitten auf dem Übungsplatzgelände gelegen, und in einem neu aufzubauenden Dorf unmittelbar am Fuße des Wasserturmes. Um diesem neuen Ort einen Namen zu geben, wurden am 27.12.1945 mit Rundschreiben Nr. 143 alle Belegschaftsmitglieder des Landratsamtes Großenhain zu einem Preisausschreiben für einen neuen Ortsnamen aufgerufen. Eine Flasche Likör oder 25 Zigarren sollte die- oder derjenige erhalten, dessen Namensvorschlag von der Kommission gebilligt wurde. Vierzehn, zum Teil recht ausgefallene Vorschläge wurden bis zu dem vorgegebenen Termin - 29.12.1945, 12.00 Uhr - eingereicht. In der vorgefundenen Vorschlagsliste sind folgende Ortsnamen aufgezeichnet: „Stalino“, „Neudorf“, „Merkursdorf“, „Neufriedhain“, „Friedensdorf“, „Friedborg“ (in Frieden geborgen), „Oleswalde“, „Zeitwende“, „Friedenau“, „Friedland“, „Waldsassen“ o. „Neusiedel“, „Heidedorf“, Friedwald“ und „Schweißrose“. Die Entscheidung fiel, laut Beschluss vom 30.12.45, auf den Ortsnamen „Neudorf“.

Der Aufbau von Neudorf stand unter der persönlichen Schirmherrschaft des Landrates Oles, die fachliche Aufsicht oblag dem damaligen Bauamt. Mit der Bauausführung (auf Stundenbasis) wurde die ehemalige Baufirma Erich Müller aus Großenhain beauftragt Als Baumaterial dienten überwiegend die sogenannten "Reichsarbeitsdienst-Baracken" aus dem Gefangenenlager Jacobsthal und zum anderen Ziegelsteine aus den Ruinen gesprengter Munitionsgebäude zwischen Zeithain und dem Wasserturm, die von Koselitzer Bauern mit ihren Gespannen zusammengekarrt und von Frauen abgeputzt wurden. Für deren Abbruch und ausschließliche Verwendung zum Aufbau der Siedlerdörfer Neudorf und Gorisch erhielt der Landrat am 11.1.1946 vom 1. Vizepräsidenten der Landesverwaltung Sachsen, Kurt Fischer, in Übereinstimmung mit dem stellvertretenden Chef der Sowjetischen Militäradministration des Bundeslandes Sachsen, Oberst Sluchowski, die Genehmigung. Ein Teil des Bautagebuches des damaligen Bauleiters ermöglicht einen Einblick in die Situation des Baugeschehens und die Schwierigkeiten, die aus heutiger Sicht das Bauvorhaben als recht waghalsig erscheinen lässt. Die Errichtung der Neubauerngehöfte erfolgte in Form von Einzel- und Doppelbaracken, ausgestattet mit Wohn- und Stallraum. Ein Rest dieser Baracken ist auch heute noch vorhanden. Am 28.12.1945 wurde dem Landrat Oles vom Bauamt die Auftragserteilung zur Errichtung der 100 Siedlerstellen ohne Nebengebäude auf dem früheren Truppenübungsplatz Zeithain bestätigt. Die Kosten wurden auf 150.000,- RM geschätzt. Mit den Arbeiten wurde am 2. Januar 1946 begonnen, die Grundsteinlegung war für den 6. Januar 1946, 11.00 Uhr vorgesehen. Als Termin für die Fertigstellung wurde Ostern 1946 genannt. Am Sonntag, dem 6. Januar 1946, 11.00 Uhr war es dann soweit, dass die Grundsteinlegung für die erste Siedlerstelle durch den damaligen Landrat Oles erfolgen konnte. Der feierliche Akt wurde unter Teilnahme von Vertretern der Landesverwaltung Sachsen, der Kreisverwaltung, der Besatzungsmacht und der Bevölkerung aus der Umgebung vollzogen. Alles was die Anwesenden, insbesondere die erwartungsvollen Umsiedler bewegte, fasste Landrat Erwin Oles in den Worten: "Frieden, Freiheit, Brot" zusammen, die seine Hammerschläge auf den Grundstein begleiteten.

Umfangreiche Dienstverpflichtungen wurden ausgesprochen, um den großen Bedarf an Arbeitskräften, besonders an Bauhandwerkern und Baubetrieben sowie an Transportkapazität abzusichern. Das gelang aber nicht in erforderlichem Umfang. An die umliegenden Gemeinden ergingen Aufforderungen zur täglichen Stellung von 100 Arbeitern, 60 Frauen und 20 Gespannen. Auch die arbeitsfähigen Personen des damaligen (Umsiedler-) Waldlagers, welches der Gemeinde Zeithain unterstand, wurden durch die Stadtkommandantur Großenhain verpflichtet, sich sofort zum Aufbau der Neusiedlung zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig erging die Weisung, "diesen Leuten eine gute und ausreichende Mittagskost zur Verfügung zu stellen".

Täglich gab es neue Probleme bei der Realisierung dieses Bauvorhabens. Der fehlende Planungsvorlauf und finanzielle Sorgen stellten die Verantwortlichen vor immer neue Aufgaben. Vor allem die ständig unzureichende Transportkapazität führte dazu, dass das auf Kosten des neuen Siedlerdorfes in mühevoller Arbeit gewonnene Baumaterial nicht schnell genug abtransportiert und sichergestellt werden konnte. So wurden erhebliche Mengen an Baumaterial entwendet, durch Unbefugte abtransportiert oder durch örtliche Einheiten der Besatzungsmacht beschlagnahmt. Trotz aller Schwierigkeiten gingen anfänglich die Bauarbeiten noch relativ gut voran. Nicht zuletzt infolge der ständigen Besuche der Baustelle durch Landrat Oles und der daraus resultierenden Hinweise und Kritiken zu dem ihn nicht befriedigenden Baugeschehen und Bautempo. Unbeschadet dessen erging durch Landrat Oles am 22.2.1946 die Weisung, dass am 10. März 1946 die ersten Siedlungen in Neudorf durch die Neusiedler bezogen werden sollen. "Bis zu diesem Tage müssen mindestens 5 Siedlerstellen fix und fertig sein. Es darf nichts in diesen Siedlungshäusern fehlen. Die Abteilung Bauernhilfe hat dafür zu sorgen, dass sich in jedem Stall mindestens 2 Kühe, 1 Schwein und wenn möglich auch 1 Ziege und 1 Schaf befinden. Ferner müssen auch etliche Hühner vorhanden sein."

 

Eine festliche Menge hatte sich am Sonntag, dem 10. März 1946 auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Zeithain eingefunden, um der für 11.00 Uhr anberaumten Übergabe der ersten sieben Siedlerstellen beizuwohnen. Die ersten Neubauern waren Martin Schneider, Gustav Kelm, Margarete Haufe, Else Mönch, Josef Laube, Rudolf Mendritzki und Andreas Schiewe. In feierlicher Form wurden den Neusiedlern durch Landrat Oles die Besitzurkunden überreicht. Im Anschluss an die feierliche Übergabe der Höfe erfolgte die Verlosung des Viehs, das den Bauern von Neudorf durch die Hilfe des ganzen Landes zur Verfügung gestellt werden konnte. Gegenstand der Verlosung waren Pferde, Kühe, Schweine und Schafe.

Mitte April 1946 waren die Bauarbeiten in ein Stadium gekommen, welches sich vom finanziellen Standpunkt aus nicht mehr verantworten ließ.
Daraufhin stellte die Volkssolidarität als Soforthilfe 250.000 RM zur Verfügung. Anfang Mai wurden die nächsten sieben Baracken an die Bewerber Reimann, Moch, Woßnik, Broll, Beyer, Wessel und Wenzke übergeben. Damit belief sich die Zahl der Neubauernstellen einschließlich des  Anwesens auf der Lichtenseer Straße 1 inzwischen auf fünfzehn. Die Fertigstellung weiterer Baracken ging zunächst zügig voran, allerdings mit etwas weniger Ausstattung und Aufwand als bisher, da sich inzwischen ein Mangel an bestimmten Baumaterialien bemerkbar machte. So wurden in der Folgezeit auch nur wenige Scheunen gebaut. Zu den Neubauern kamen auch die sogenannten Professionisten; Schwarz als Gärtner, Rossbiegalle als Schmied, Huster als Kaufmann, Kretzschmar als Stellmacher, Vieweg als Schuhmacher, Noß als Ofensetzer, Noak als Bienenzüchter und andere.

 

Der Neubeginn für die Neudorfer war nicht leicht, da es fast an allem mangelte. Neben der Unterstützung durch Betriebe, Organisationen und Zeithainer Bauern gab es aber auch Hohn und Spott, wie die Feststellung, dass sich im Neudorfer Getreide die Sperlinge knieen müssten.
Im Oktober 1946 wurde in der "Heideschule" in zwei Klassenzimmern der Schulunterricht mit 77 Schülern aufgenommen. Neudorf zählte zu diesem Zeitpunkt einschließlich dem dazugehörigen Waldlager, 459 Einwohner. Neben der Gemeindeverwaltung, der Volksschule und der Poststelle gab es eine Gaststätte, ein Lebensmittelgeschäft, Schmiede, Stellmacher, Ofensetzer, Schuhmacher sowie eine Gärtnerei. Am Ende des Jahres 1947 waren in Neudorf von den 50 vorgesehenen Siedler- und Handwerkerstellen 38 ganz oder teilweise fertig gestellt. Sieben Siedlerstellen waren begonnen. Jedes Gehöft verfügte über einen Elektro- und Wasseranschluss. Obwohl sich die Zahl der Einwohner, auch im Zusammenhang mit der Auflösung des Waldlagers und der sich ausweitenden militärischen Nutzung der Flächen, sowie durch die Abwanderung einiger Siedler nach dem Oderbruch, ständig verringerte, gab es 1950 bereits 7 gebürtige Neudorfer (Peter Pech, Wolfgang Rudolph, Hans-Gerhard Weis, Gert Noak, Bärbel Mietzner, Anita Quade und Marianne Nowak).

Zu dieser Zeit wurde mit dem Bau der ersten massiven Neubauernhäuser als Ersatz für die Baracken, speziell auf der damaligen Erwin-Oles-Straße (später Wasserturmstraße), begonnen. Nach einer Aktion im Rundfunk über das "vergessene Dorf" wurden diese fertig gestellt und auch die ersten gemeindeeigenen Siedlungshäuser auf der Edwin-Hoernle-Straße an Stelle der Baracken errichtet. Am 26. August 1952 wurde die LPG "Fortschritt" Typ I mit Wilhelm Pech als Vorsitzenden und den Bauern Wessel, Laube, Wenzke und Bienert gegründet. Der Bau des volkseigenen Mastbetriebes 1954 brachte Arbeitsplätze und neuen Wohnraum. Die Mastanlage, nach den neuesten sowjetischen Erfahrungen gebaut, besaß eine Kapazität von 1.250 Schweinen. Die Tiere, die als Läufer in die Mästerei kommen, sollen innerhalb von fünf Monaten zu Fleischschweinen gemästet werden. Die Futterbeschaffung erfolgt hauptsächlich aus Abfällen von Großküchen. Die anfänglich mit Skepsis verfolgte Ausbringung des anfallenden Schweinedunges aus der Mastanlage  führte in der Folgezeit zu einer wesentlichen Bodenverbesserung und höheren landwirtschaftlichen Erträgen. Am 23. November 1957 schlossen sich die restlichen Bauern Gustav Bürger, Karl  Herzenberger, Georg  Weiß, Kurt  Bürger, Josef  Siegel und die werktätige Einzelbäuerin Hedwig Eckert zur "LPG Vorwärts" TYP III, mit Kurt Bürger als Vorsitzenden, zusammen. Später erfolgte der Anschluß der Neudorfer LPG an die LPG Streumen.

1970 wurde der Ort nach Zeithain eingemeindet.
2007 lebten 136 Einwohner in Neudorf, Tendenz steigend.
Nach einem 2008 überarbeiteten Bebauungsplan stehen 51 neue Parzellen mit einer Größe von jeweils etwa 1000 m² zur Verfügung, auf denen Eigenheime für weitere Neudorfer entstehen sollen.

Herrn Kurt Noak und Frau ganz herzlichen Dank für die Bereitstellung von Text- und Bildmaterial und die vielen kleinen, liebevoll erzählten, hochinteressanten Geschichten von Neudorf.




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